Friedebald, die Puppe, führte in meinem Haushalt mehrere Jahrzehnte lang, ein stilles Dasein. Nie wäre ich darauf gekommen, dass die Puppe aus der Manufaktur von Käthe Kruse ein echtes Vorbild hatte, nämlich den Maler Friedebald Kruse. Durch eine Kurzmeldung wurde ich am 9. Juni 2018 allerdings hellhörig. Denn an diesem Tag fand in Bonn eine Gedenkveranstaltung zum bevorstehenden Geburtstag von Friedebald Kruse statt. Mit der Frage, wer dieser Mensch war, begab ich mich auf Spurensuche. Bei Recherchen habe ich nur wenige Informationen gefunden. Und so ist die nachfolgende Geschichte lediglich der Versuch einer Rekonstruktion.
Fröhlich pfeifend und mit einem Lied auf den Lippen marschierten sie im Gleichschritt gen Frankreich. Das wäre ja alles im Handumdrehen erledigt. Ein großer Spaß würde das werden und der Krieg genauso schnell vorbei, wie er gekommen war. So dachten viele junge Männer im Jahr 1914 und meldeten sich freiwillig. Und sie glaubten daran – solange bis die ersten Verletzten heimkehrten. Aus Schulen, Konzerthallen und anderen öffentlichen Gebäuden wurden Lazarette und Lebensmittel gab es nur noch auf Bezugsschein.
Auch Bad Kösen wurde davon nicht verschont. Das gewohnte Leben gab es nicht mehr. Es dreht sich alles nur um den Krieg und das Weiterleben. So wurden auch dort viele öffentliche Einrichtungen kurzerhand zu Hilfslazaretten gemacht. Sogar das Geld für den Krankenhausneubau wurde in Kriegsanleihen gesteckt. Statt der illustren Kurgäste kamen mehr und mehr Kriegsversehrte, die sich in dem bekannten Kurort erholen sollten, bevor sie erneut in den Krieg ziehen würden.
Zu dieser Zeit lebte Käthe Kruse mit ihren fünf Kindern, Maria, Sophie, Johanna, Jochen und Michael bereits seit mehreren Jahren in Bad Kösen. Hier war sie heimisch geworden und stellte ihre Puppen her. Wenngleich sich die Kriegspuppen gut verkauften, spürte auch sie die Einschränkungen. Mehl und Brot waren stark rationiert und es wurde immer schwieriger, nahrhafte Speisen für sich und die Kinder zuzubereiten.
Es möge bald Frieden werden
Alle waren müde. Vier Jahre Krieg zerrten an den Menschen. Man wollte Frieden, und zwar bald. Dies war auch der innigste Wunsch der Familie Kruse. Und so wurde der am 15. August 1918 geborene dritte Sohn „Karl Max Friedebald“ genannt. Ein anderer Name wäre Käthe und Max Kruse in diesen Zeiten nicht vorstellbar gewesen. Als wäre dies ein gutes Omen, war dieser zermürbende Krieg tatsächlich wenige Wochen später beendet.
Man atmete auf, beseitigte die Trümmer und feierte das Leben. Und Friedebald wuchs heran. Schon als Kind wurde er nur mehr Friedebald genannt. Manchmal wurde auch Friedel daraus. Und er war ein echter Wonneproppen. Mit seinen großen Augen und den dunklen Locken, bezauberte er wirklich jeden. Nur mit der Schule hatte er es nicht so. Denn die Noten hätten besser sein können, hätte er nicht so viel geträumt. Theater wollte er spielen. Auch er wollte eines Tages wie Gustav Gründgens in Berlin auf der Bühne stehen und den Mephisto geben. Oder mit der Dietrich in einem Ufa-Streifen brillieren. Ja, das war sein großer Traum. Wen interessierte da schon Mathematik und Physik? Das war doch unnützes Zeug. Zeitverschwendung!
Die Bretter, die die Welt bedeuten
Diese Flausen sollte er sich aus dem Kopf schlagen und erst einmal das Abitur machen. Käthe wollte, dass aus ihren Söhnen etwas Vernünftiges wurde. So sollte es sein und so wurde es. Fertig! Friedebald wurde also kurzerhand nach Weimar geschickt, um dort das Abitur zu machen. Er wohnte bei einer befreundeten Familie und hatte es gut. Die Gasteltern sorgten dafür, dass er fleißig lernte. Als ihm eine Rolle als Statist am Theater angeboten wurde, ließen sie ihn jedoch gewähren. Und Friedebald war selig. Endlich spürte er die Bretter, die die Welt bedeuten unter seine Füßen.
Doch noch konnte er an eine Bühnenkarriere nicht denken. Denn bis zum Abitur waren es noch zwei Jahre. Zunächst ging es aber erst einmal in die Ferien nach Ascona. Mit Fifi und Max sollte er dort ein paar Wochen verbringen. Und tatsächlich wurde es ein unbeschwerter Aufenthalt. Zusammen machten sie lange Spaziergänge an der Seepromenade des Lago Maggiore, besichtigten die Sehenswürdigkeiten und unternahmen Wanderungen im Umland. War das Wetter schlecht, besuchten sie die Museen der Stadt. Beeindruckt von den Gemälden, die er dort sah, entdeckte Friedebald seine Leidenschaft für die Malerei.
Das Leben hat andere Pläne mit Friedebald Kruse
Gemalt hatte er eigentlich schon immer. Das gehörte in seinem Elternhaus einfach dazu. Sein Vater war Bildhauer und Bühnengestalter, sein Onkel Oskar Kruse Maler. Seine Halbschwester Annemarie war mit dem begnadeten Maler und Bildhauer Igor von Jakimow verheiratet. Ständig gingen namhafte Künstler ein und aus. Langweilig war es dort nie. Jetzt wollte er ebenfalls Maler werden. Genau das war es! Block und Aquarellfarben waren schnell besorgt und mit dem Pinsel hielt er die Schönheit der Tessiner Landschaft fest. Zurück in Weimar malte er, wann immer er Zeit hatte. Das Abitur bestand er schließlich mit Ach und Krach. Doch bevor er sich an einer Kunstschule bewerben konnte, wurde er zum Arbeitsdienst eingezogen.
Die Nationalsozialisten stellten mittlerweile die Regierung und die bestehende Ordnung veränderte sich zunehmend. Ein neues Weltreich sollte entstehen. Bücher waren verbrannt und mit dem Bau der Autobahn war begonnen worden. 1935, als Friedebald mit seinen Geschwistern in Ascona war, wurde die Wehrpflicht wieder eingeführt und die sogenannten Rassegesetze verabschiedet. Kunst war nur noch Kunst, wenn sie einer bestimmten Ideologie entsprach.
Krieg liegt in der Luft
In diesem Klima verrichtete Friedebald seinen Arbeitsdienst in Bitterfeld. Dort sollte er Bäume roden. Wofür genau, das wusste er nicht. So war das eben. Man machte, was einem gesagt wurde. Und es war ja auch nur für ein Jahr. Das würde schnell vorüber sein und dann würde er zur Kunstakademie gehen und Maler werden. Doch es kam anders. Noch bevor der einjährige Arbeitsdienst beendet war, wurde er um ein weiteres Jahr verlängert.
Der Krieg, der sich schon zwei Jahre zuvor mit der Zerstörung von Gernika angekündigt hatte, brach nun aus. Und Friedebald? Der tauschte die Axt gegen das Gewehr. Er fand sich damit ab und meldete sich zu den Feldjägern. Denn mit der Waffe kämpfen wollte er eigentlich nicht. Aber den Verkehr regeln, für Ordnung und Sicherheit sorgen, das konnte er sich schon vorstellen.
Zunächst wurde er in St. Malo stationiert. Dort fand er auch wieder Zeit, zu malen und Tagebuch zu schreiben. Seite um Seite füllte sich mit seinen Beobachtungen und Erlebnissen in Frankreich. Das alles illustrierte er mit unendlich vielen Aquarellen. In den Stunden, in denen er schrieb und malte, fühlte er sich glücklich und befreit. Den Krieg konnte er dann vergessen. Doch er zweifwelte auch immer wieder an seinem Talent. Ach, er sehnte das Ende des Kriegs herbei. Denn dann würde er Architektur studieren.
Berlin und die Liebe
Hatte er Heimaturlaub, zog es ihn zurück nach Bad Kösen oder Berlin, wo sein Vater lebte. Diese Zeit genoss er sehr. Wenngleich Berlin unter den Einschränkungen des Krieges genauso litt, wie alle anderen Städte, behielt sie doch ein einzigartiges Flair. Berlin war eben Berlin, mit all den Attraktionen, Varietés, Tingeltangeln und Theatern. In dieser schillernden Stadt besuchte Friedebald besonders gerne das Deutsche Theater, dessen Intendant Heinz Hilpert war und ein guter Freund seiner Mutter. Dank dieser guten Beziehung, besuchte er zusammen mit seinem jüngeren Bruder Max, eine Generalprobe. In dieser Aufführung spielte die junge und hübsche Eva Lissa. Friedebald verliebte sich auf Anhieb in sie. Eine Affaire d’amour hatte keine Chance, denn sein Heimaturlaub ging zu Ende.
Doch dann eines Tages, begegnete ihm irgendwo in den Straßen von Berlin Gretel. Ihr Lachen verzauberte ihn vom ersten Moment an. Dann strahlte sie heller als die Sonne am Mittag und die Zeit blieb stehen. Sie war die eine. Sie war die Seine. Und sie sollte ein Teil seiner Familie werden, sobald der Krieg vorüber war. So viel stand fest. Aus St. Malo schrieb er ihr glühende Liebesbriefe. Auch sehnte er den Tag herbei, an dem er wieder nach Berlin fahren würde.
Sein Glück konnte er kaum fassen, als er 1942 einen mehrere Monate langen Urlaub bekam und in Berlin mit dem Architekturstudium beginnen konnte. Friedebald traf seine Gretel, wann immer dies möglich war. Sogar einen gemeinsamen Urlaub verbrachten sie in dem von Onkel Oskar errichteten Künstler- und Familientreff Lietzenburg auf der Insel Hiddensee. Seine Schwester Fifi und sein Bruder Max waren auch bei dieser Reise wieder an seiner Seite. Ohne auch nur einen Gedanken an den Krieg zu verschwenden, verbrachten sie zu viert friedliche Tage auf der malerischen Ostseeinsel.
Zu Väterchen Russland an die Ostfront
Die Illusion einer unbeschwerten Zeit sollte jäh enden, als Friedebald Kruse einen Marschbefehl nach Russland bekam. Wieder einmal musste er von seinen Geschwistern und seiner geliebten Gretel Abschied nehmen. Doch dieses Mal hoffte er inständig, dass sein Name Omen und Botschaft zugleich sein würde. Möge es doch bald wieder frieden werden. Doch das sollte noch drei Jahre dauern.
Die Propaganda hatte viel Schreckliches über Russland verbreitet. Und auch die heimkehrenden Kriegsversehrten berichteten nichts Gutes. Was Friedebald aber in Russland kennenlernte, entsprach ganz und gar nicht dem erwarteten Schreckensbild. Weite Landschaften erstreckten sich bis zum Horizont. Fruchtbare Niederungen durchzogen von reißenden Strömen wechselten sich mit rauschenden Wäldern ab. Auch die Bevölkerung erlebte er gänzlich anders als geschildert. Trotz aller Entbehrungen begegneten ihm die Menschen freundlich und offenherzig. Sowohl die Landschaft als auch die Menschen beeindruckten ihn während seiner Zeit in Russland tief und nachhaltig. Die Aufzeichnungen in seinem Tagebuch und die vielen Aquarelle, die er dort anfertigte, zeugen noch heute davon.
Friedebalds letzter Urlaub in Berlin
Dennoch, ein Tag war wie der andere. Die Versorgungslage der deutschen Soldaten wurde schwieriger und die Bedingungen im Feld zerrten an der Substanz. Im Spätsommer des Jahres 1943 konnte Friedebald diese unmenschlichen Bedingungen noch einmal hinter sich lassen. Ein kurzer Heimaturlaub wurde ihm bewilligt. Er fuhr nach Berlin. Der Krieg hatte auch in dieser einst so schillernden Stadt deutliche Spuren hinterlassen. Und auch an Gretel waren die Entbehrungen nicht spurlos vorüber gegangen. Doch ihre Liebe war ungebrochen. Und so kehrte er nach ein paar Tagen ungetrübten Glücks wieder an die Ostfront zurück.
Dort lautete der Befehl, „Feste Plätze“ zu schaffen. Tarnapol, 20 km von den deutschen Linien entfernt, sollte im März 1944 eine strategische Festung werden. Die Stadt wurde von den deutschen Truppen besetzt und von der Roten Armee angegriffen. Nach einer einmonatiger Besatzungszeit waren die Trinkwasservorräte aufgebraucht. Nachschub war nicht in Sicht. Dafür begann Starkregen, der das Gelände in eine Schlammwüste verwandelte. Tarnopol musste aufgegeben werden. Rückzug wurde befohlen. Rette sich, wer kann. Ein sinnloses Unterfangen in dem baumlosen Gelände. Es kam zu Unfällen. Nur wenige überlebten. Friedebald Kruse verstarb im Alter von 25 Jahren an den Folgen eines Autounfalls. Er wurde in der Nähe von Smolensk begraben.
So hätte es gewesen sein können. Ich bin in die Historie eingetauscht und habe meiner Fantasie gestattet, aus den wenigen zur Verfügung stehenden Fakten, eine anschauliche Geschichte zu machen. Vielleicht hat es sich so zugetragen. Vielleicht war es auch ganz anders. Das werden wir erst erfahren, sollte Friedebalds Tagebuch jemals veröffentlich werden.
Und die Puppe Friedebald?
Diese Geschichte ist schnell erzählt – und hat sich tatsächlich so zugetragen. Die Manufaktur von Käthe Kruse stellte weiterhin Puppen her. Im Jahr 1928 kam die „Puppe VIII“ auf den Markt. Sie wurde nach einer Büste von Friedebald Kruse hergestellt und ist seitdem auch unter diesem Namen bekannt und beliebt. Von den ersten Exemplaren sind nicht mehr all zu viele Exemplare erhalten.
Eine solche Puppe nannte eine Tante meiner Mutter ihr Eigen. Und weil sie keine Kinder hatte, nahm sie einen Friedebald in ihrem Heim auf. Das muss in den 50er Jahren gewesen sein. Denn unter dem linken Fuß ist ein Stempel mit dem Aufdruck „amerikanische Besatzungszone 28. Okt.“ zu lesen.
Puppe Friedebald lebte viele Jahre lang, glücklich und zufrieden in Hamburg bei besagter Tante. Dort wurde er umsorgt, gepflegt und neu eingekleidet. Er bekam regelmäßig frische Luft und durfte auch mal an die Sonne. Kurz: Ihm ging es dort sehr gut.
Wie das Leben nun einmal so ist, wurde die Tante älter und verstarb. Um ihren Nachlass kümmerten sich ihre Nichten und deren Kinder. Die Tante hatte viele schöne Dinge, die die Nichten gerne in ihr eigenes Zuhause mitnahmen. Nur Friedebald, den wollte keiner haben. Um Friedebald nicht seinem Schicksal zu überlassen, habe ich ihm ein neues Heim gegeben. Bei mir hat er über 30 Jahre gelebt. Und ich glaube sagen zu können, dass es ihm bei mir ebenfalls gut ging. Wenn ich ihm auch nie neue Kleider genäht habe.
Friedebalds Steckbrief
- Ausweis-Nr.: 472
- Geburtstag: 28.Oktober
- Geburtsjahr: vermutlich 1957
- Körpergröße: 52 cm
- Schuhgröße: 7
- Haut: Nessel
- Kopf: vermutlichPolysterol
- Augenfarbe: blau
- Haar: Echthaar
- Haarfarbe: blond
- Kleidung: Baumwolle
- Schuhe: Leder (1 Paar), Kunststoff (7 Paare)
Und damit neigt sich eine lange Geschichte dem Ende zu. Doch bevor ich schließe, möchte ich nicht versäumen, mich bei Frau von Hagen, vom Käthe Kruse Club für die engagierte und geduldige Unterstützung zu bedanken.
Ich hoffe sehr, dass euch die Geschichte von Friedebald Kruse, der historischen Person und der Puppe, gefallen hat. Sofern ich kann, beantworte ich gerne Fragen.
Frau Inga
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Links zu weiterführenden Informationen
- Käthe Kruse bei Wikipedia
- Die wichtigsten Ereignisse im Nationalsozialismus
- Der Geschichte von Tarnopol
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Eine wunderbare einfühlsame Geschichte um Friedebald. Das war ein schöne Lektüre.
Liebe Hedda,
ich freue mich, dass dir die Geschichte gefallen hat. Vielen Dank für dein Lob.
Herzliche Grüße
Frau Inga
Guten Tag,
kennen Sie den Begleitband zur Sonderausstellung „90 Jahre „…die Puppe Friedebald“ 1929-2019″ im Käthe-Kruse-Puppen-Museum in Donauwörth?
Die Ausstellung, die natürlich längst wieder abgebaut werden mustte, war phantastisch! Zum Glück bleibt uns der zugehörige Beleitband, der ebenfalls sehr gelungen ist.
https://www.donauwoerth.de/kultur/museen/kaethe-kruse-puppen-museum/
[Link gelöscht, weil es die Seite nicht mehr gibt]
Fröhliche Grüße Kathrin Finn
Liebe Frau Finn,
danke für den Hinweis. Ich kenne die Ausstellung nicht. Ist von Bremen ja ziemlich weit entfernt.
Herzlichst,
Frau Inga
P.s.: Meine Eltern haben mir einen Namen gegeben, damit ich damit angesprochen werden kann. Finde ich gut.